Nachtschicht
Die letzte Nacht war ereignisreich. Ich bin heilfroh, jetzt hier zu Hause an meinem Schreibtisch zu sitzen und euch in aller Ruhe zu berichten, was geschehen war. Wie immer ist es schwierig, den Anfang zu finden, denn die richtigen Worte für Außergewöhnliches wären nun mal ebenso außergewöhnlich, doch da ich ein gewöhnlicher Mensch bin, müssen in diesem Fall gewöhnliche Worte dafür herhalten. Wie gesagt, das ist nicht ganz so leicht.
Alles begann letzte Nacht rund vier Stunden nach meinem Dienstantritt. Die zweite Kontrollfahrt mit dem Fahrrad lag gerade hinter mir und ich setzte mich draußen auf die geliebte Bank unter dem weit ausladenden Baum. Das ist jener Baum, von dem die Krabbeltierchen sich gerne zu mir abseilen, sich auf der Hutkrempe sammeln, um mir dann direkt vor meinen Augen eine unscharfe Makroaufnahme von sich anzubieten.
Es muss so gegen Mitternacht gewesen sein, ich e-dampfte genüsslich vor mich hin, da nahm ich in etwa einem Meter Entfernung auf dem mit Steinen gepflasterten Boden eine Bewegung wahr. Nichts Konkretes, es schien nur so, als rührte sich dort etwas. Neugierig stand ich auf und ging näher heran. Ja, da war etwas ziemlich Winziges. Um es genauer zu erkennen, bückte ich mich tief herab. In einem Halbrund standen wohlgeordnet schätzungsweise ein Dutzend Ameisen und in der Mitte befand sich eine einzelne Ameise, die, wie es mir schien, heftig mit ihren Gliedern in meine Richtung gestikulierte und um Aufmerksamkeit bat.
"Nanu, wer bist denn du?", entfleuchte es stimmlich aber unbewusst meinem Mund. Selbstgespräche sind bei dieser Art der recht einsamen beruflichen Tätigkeit nichts Ungewöhnliches. Vor Jahren, als ich noch mit meiner Hündin den Dienst versah, schob ich diese Selbstgespräche, wenn jemand sie zufällig mitbekam, auf die Kommunikation mit der vierbeinigen Kollegin. Während ich also noch innerlich ein wenig über meine Worte schmunzelte, vernahm ich abermals leise eine Stimme. Na klar, denkt ihr sofort, das konnte ich mir nur eingebildet haben. So ähnlich dachte ich anfangs auch, trotzdem ging ich mit meinem Ohr näher in Richtung Erde und murmelte verstohlen: "Was möchtest du Kleine denn?"
Dann geschah das Außerordentliche, für das ich eben nicht die richtigen Worte finde, denn just in dem Moment, da mein Ohr in der körperlichen Neige den tiefsten Punkt erreicht hatte, nahm ich einen heftigen stechenden Schmerz in meinen Kniekehlen wahr. Instinktiv schaute ich dorthin und sah rechts und links jeweils eine Soldaten-Ameise wie sie mit etwas, das in gewisser Weise einem polizeilichen Schlagstock glich, nur kleiner halt, winzig eben, wie sie also beide damit in meine Kniekehlen schlugen. Noch während ich fragend staunte, lösten sich aus dem Halbrund vier oder fünf Ameisen und nahmen mich kräftig bei meinen Schultern. Ja, ihr denkt, jetzt ist oller Monomond vollends übergeschnappt, verstehe ich, absolut sogar, denn ich hatte genau dasselbe in diesem Moment gedacht. Völlig verdattert (ist das nicht ein herrliches Wort?) war ich aber zu keiner Regung fähig, wollte mich erheben, doch der Schmerz in den Knien lähmte alle Muskeln. Ich war vollkommen unfähig zu irgendeiner Regung.
Die vormals mittlere Ameise packte mich bei der Hand, ich meine, das geht natürlich nicht, das wusste ich auch, doch so erschien es mir, und sie zog mich hinab zu Boden dicht neben sich. "Da haben wir dich endlich!", triumphierte sie und zerrte mich zwischen zwei Pflastersteinen in die Ritze hinein, "Monomond, du bist verhaftet. Mitkommen!", befahl sie.
Zuerst überlegte ich, ob beim gestrigen Mischen des Liquids für meine E-Dampfe versehentlich CBD-Aroma ins Propylenglykol geraten war, doch dann wurde mir recht schnell klar, dass es sich um die Wirkung von Ameisensäure gehandelt haben muss, die mich in der Folge willenlos und wehrlos gemacht hatte, nicht fähig, auch nur den geringsten Widerstand zu leisten. Es eilten blitzschnell viele Arbeiterinnen-Ameisen herbei, die meinen Körper wie auf unzähligen kleinen Rädchen zielstrebig durch einen Gang unter den Steinen vorwärts beförderten. Um mich wurde es dunkler aber nicht finster wie in einem Schwarz, denn von irgendwoher ließ ein fahles Licht mich die Umgebung noch in Grautönen erkennen. Alsbald legte man mich in einem fensterlosen Raum ab. Richtig, es war eine Zelle, denn am Eingang postierten sich mächtige Riesenameisen mit bedrohlich scharfen Klingen quasi als Kieferersatz. Eigentlich waren es lebendige Waffen, die dort zu meiner Bewachung abgestellt wurden. An Flucht meinerseits war jedenfalls nicht zu denken, auch wenn langsam das lähmende Gift nachzulassen schien.
"Wo bin ich hier? Was soll das alles? Hilfe!", schrie und schimpfte ich empört. Da bewegte sich aus dem Halbschatten der Wächter eine kleinere Ameisen-Gestalt, wand sich zu mir und sprach in emotionslosen, fast wie vorgelesen klingenden Worten: "Monomond, du wurdest verhaftet, denn dir wird heute der Prozess gemacht. Du bist beschuldigt des Massenmordes an 164 Ameisen allein in den letzten sechs Monaten. Belegt und dokumentiert. Dein Prozess beginnt in Kürze". Ich wollte etwas entgegnen, weiß jetzt aber nicht einmal mehr was, denn es blieb bei meinem fragend staunenden offenen Mund. Ich griff in meine Tasche zum Handy, Verzweiflung ließ mich stöhnen, man hatte es mir genommen oder es war verloren gegangen.
Versetzt euch bitte in meine Lage! Das könnt ihr nicht? Ihr lacht und schüttelt eure Köpfe? Nein, ernsthaft, was sollte ich da erwidern? Absurd in grotesker Lage. Irrational aber wahrhaftig real. Natürlich dachte ich ebenfalls, es müsse sich um eine Art Wachtraum handeln, eine Psychose vielleicht, der ich warum auch immer anheim gefallen war. So what? Es war, wie es war. Wenn du in einer Gefängniszelle hockst, kannst du denken, was du willst, dadurch wirst du nicht befreit. Es befreit sich nichts von selbst sozusagen, etwa wie durch einen Kniff beim Erwecken aus einer hartnäckigen Fantasie. Und dass die Zelle surreal klein war, in der ich mich befand, das wusste zwar mein Gehirn, die Ratio, doch wenn du dich in ihr befindest, ist ihre Größe unwichtig und immer gleich - eine Zelle ist eine Zelle und bleibt eine Zelle. ...
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